Es geht ums Ganze!

Von der Schein-Demokratie zur Gemeinwohl-Ökonomie

Es geht ums Ganze! Von der Schein-Demokratie zur Gemeinwohl-Ökonomie – ein Essay von Thomas Deterding

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Der Stand der Dinge

Wir wissen um den Zustand der Erde. Wir wissen es seit Jahrzehnten. Wir handeln aber nicht entsprechend. Mit dieser Feststellung, die fast schon trivial ist, möchte ich beginnen. Denn sie wirft viele gar nicht mehr so triviale Fragen auf – vor allem die eine: Warum ist das so?

Aber der Reihe nach! Vorab ein paar Zitate, die beispielhaft illustrieren, wie es um den blauen Planeten bestellt ist:

  • „Im zurückliegenden Jahrhundert war die Rate des Artensterbens mehr als 100 Mal höher als sie es ohne menschliche Aktivität gewesen wäre, warnen Wissenschaftler verschiedener amerikanischer Universitäten in einer gemeinsam veröffentlichten Studie. Der WWF geht davon aus, dass Tag für Tag 70 Arten aussterben.“ (1)
  • „Seit 1950 wurden unglaubliche 8,3 Milliarden Tonnen Plastik erzeugt. Das entspricht dem Gewicht von 822.000 Eiffeltürmen aus blankem Stahl. Nur 30 Prozent des bisher erzeugten Plastiks sind heute noch in Verwendung, der Rest bereits Teil eines massiven Umweltproblems. 79 Prozent des weltweiten Plastikabfalls landen auf Mülldeponien oder direkt in der Natur, wie etwa in unseren Weltmeeren. 12 Prozent werden verbrannt und nur 9 Prozent recycelt – meist ein einziges Mal.“ (2) Im März 2019 wurde ein Wal mit 40 Kilogramm Plastik im Bauch gefunden. (3)
  • „Jahr für Jahr setzt der Mensch mehr CO2 frei – aller Klimaschutzrhetorik zum Trotz. Wie Messungen aus Hawaii zeigen, steigt der Gehalt des Treibhausgases in der Atmosphäre immer schneller auf neue Rekordwerte.“ (…) „Das Mauna Loa Observatorium in Hawaii verzeichnete am Samstag“, den 11.05.2019 (Anm. d. Verf.) „415,26 CO2-Teilchen pro Million Teilchen Luft (ppm).“ (…) „Forscher gehen davon aus, dass die CO2-Werte zuletzt vor drei Millionen Jahren ähnlich hoch waren wie heute.“ (4)

Man könnte diese Liste schier endlos fortsetzen. Und bezieht man neben der Ausbeutung der Natur auch die Ausbeutung des Menschen mit ein, so wird das Bild noch düsterer. Hier nur ein Beispiel:

  • „Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) hat im September 2017 einen Bericht über die Situation der Kinderarbeiter vorgelegt. Laut IAO arbeiten in der Altersgruppe zwischen fünf und 17 Jahren weltweit 152 Millionen Kinder. Unter ihnen sind 72 Millionen Mädchen und Jungen in gefährlicher Arbeit: Sie schuften an gefährlichen Orten wie Steinbrüchen oder kommerziellen Plantagen, sie leisten Nachtarbeit oder haben viel zu lange Arbeitszeiten. Etwa 10 Millionen Kinder werden wie Sklaven gehalten. Sie leisten Zwangsarbeit, zum Beispiel in Haushalten oder in der Landwirtschaft, werden sexuell ausgebeutet oder sind zwangsverheiratet worden. Auch kleine Kinder arbeiten: 19 Millionen Kinderarbeiter sind jünger als elf Jahre. Ein Drittel der Kinderarbeiter besucht keine Schule.“ (5)

Aber bleiben wir beim Thema Klimawandel. Vermutlich wird 2018 das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen, und die „Chancen“, diesen Rekord bereits im nächsten Jahr wieder zu brechen, stehen nicht schlecht. (6) Seit kurzem warnen Klimaforscher*innen unter dem Schlagwort „Heißzeit“ davor, dass der Klimawandel noch viel schneller ablaufen könnte als bisher gedacht – nämlich dann, wenn die sogenannten Kippelemente, die eigentlich schon seit Jahren bekannt sind, einander anstoßen wie Dominosteine. Zu solchen „Kippelementen“ gehören „zum Beispiel die abtauenden Permafrostböden in Sibirien, Kanada oder Alaska, durch die bislang gebundenes Methan frei wird. Methan hat eine drei bis vierfach stärkere Wirkung auf das Klima als CO2. Ein anderer Kipppunkt sind die großen Wälder, unter ihnen die borealen (lat. nördlich) Nadelwälder am Nordpolarkreis oder der Amazonas-Regenwald. Letzterer nimmt allein etwa ein Viertel der Kohlenstoffmenge auf, die sonst alle anderen Pflanzen und Lebewesen weltweit aufnehmen, ist aber massiv von Abholzung bedroht. Die borealen Nadelwälder wiederum werden empfindlich geschädigt durch Hitzestress und Waldbrände in Folge der Erwärmung. Beide Waldgebiete könnten ohne massive Gegenmaßnahmen unwiederbringlich verloren gehen. Auch der Rückgang der Eisschilde, etwa in Grönland oder in der Westantarktis wäre kaum umzukehren. Weißes Eis reflektiert Sonnenstrahlung in das Weltall zurück während dunkles Meerwasser die Energie aufnimmt und hält. Das Nordpolarmeer könnte bereits mittelfristig im Sommer eisfrei sein.“ (7)

Und was tun wir? Wir, die wir die letzte Generation sind, die die nahende Katastrophe, wenn auch nicht mehr komplett aufhalten, so doch entscheidend bremsen könnte? Nichts. Jedenfalls nichts, was auch nur ansatzweise adäquat wäre. Denn die Maßnahmen, die ergriffen werden, entsprechen weder in Punkto Quantität – respektive Tempo, noch im Hinblick auf die Qualität dem Notwendigen. Dies gilt für alle Ebenen: Von den globalen Klimaverhandlungen bis hin zum*zur einzelnen Bürger*in – ganz zu schweigen von den Unternehmen. Und das alles, obwohl das Thema Klimawandel in den Massenmedien zunehmend präsent ist.

Will man also eine Generation nach Beginn des neuen Jahrtausends die Situation des Planeten Erde und der auf ihm lebenden menschlichen Gesellschaft(en) auf knappste Art zusammenfassen, so muss man folgendes konstatieren. Erstens: In mehreren Bereichen steuern wir mit hoher Geschwindigkeit auf einen Kollaps zu, der uns existentiell zu treffen droht. Zweitens: Der totale Kontrollverlust ist wahrscheinlicher geworden – und zwar dadurch, dass Dominoeffekte und andere disruptive Prozesse, wie z.B. Kriege, zu einer entsprechenden Eskalation der Lage führen können. Drittens: Wenn wir dies verhindern wollen, dann braucht es eine Wende um 180 Grad – und diese muss jetzt eingeleitet werden, nicht erst in Jahren oder Jahrzehnten.

Systemversagen auf allen Ebenen

Bevor ich mich der Frage zuwende, wie die im vorherigen Abschnitt angesprochene Kehrtwende aussehen kann, ist es notwendig, zu analysieren, wie es überhaupt zu der dramatischen Situation kommen konnte, in der wir uns derzeit befinden. Hierzu erscheint es sinnvoll, sich die gesellschaftlichen Kräfte einmal näher anzuschauen, die die Geschicke in demokratischen Staaten im Wesentlichen bestimmen. Dies sind nicht etwa die Bürgerinnen und Bürger, wie man annehmen sollte. Nein, die Rolle derer, die Citoyens sein sollten, beschränkt sich bekanntlich darauf, alle paar Jahre – im wahrsten Sinne des Wortes – die Stimme abzugeben und in der übrigen Zeit die Rolle des Zuschauers einzunehmen. Die Schalthebel der Macht sitzen natürlich woanders; im Folgenden sollen daher die gesellschaftlichen Teilbereiche Wirtschaft, Politik und Medien betrachtet werden, insbesondere aber ihr Zusammenwirken – und zwar im Hinblick auf die Frage, ob sie dem Gemeinwohl dienlich sind. (8)

Seit den 70er Jahren gelten festgelegte Grenzwerte für die Emissionen von Autos. Anfang der Zweitausender Jahre muss es dann gewesen sein, dass man bei VW und anderen Autoherstellern damit begann, die Abgasgrenzwerte und die damit verbundenen Prüfungen nicht mehr als notwendiges Übel zu begreifen, sondern nach einem Weg suchte, wie man besonders bei Dieselfahrzeugen die Einhaltung der Grenzwerte einfach suggerieren könnte. Diesen Weg fand man tatsächlich – und zwar in Form einer Software, die dafür sorgte, dass die Abgaswerte auf dem Prüfstand niedrig gehalten wurden. Obwohl das Unternehmen Bosch, der Lieferant dieser Software, 2007 schriftlich mitteilte, dass der geplante Einsatz gesetzeswidrig sei, wurde sie massenweise von VW und anderen Herstellern in ihren Dieselfahrzeugen verbaut. (9)

Das Ausmaß der kriminellen Energie, mit der – vermutlich bis hinein in die Chefetagen, oder sogar von dort ausgehend – an der Manipulation der Abgaswerte operiert wurde, ist erschreckend. Jedoch ist dieses Verhalten keineswegs einzigartig. Vielmehr werden in unschöner, aber bezeichnender, Regelmäßigkeit ähnliche Skandale bekannt. Besonders berüchtigt ist hier eine Branche, der es vorgeblich um das Wohl und die Gesundheit der Menschen geht: die Pharmaindustrie. Zur Illustration seien auch hier einige aus der Vielzahl der Fälle herausgegriffene Meldungen als Beispiele zitiert:

  • „Für viele ist es ein Pharmaskandal, ein Fall so schlimm wie mit Contergan: Für Andre Sommer ist es ein Kampf um Gerechtigkeit. Er will erreichen, dass ein Pharma-Konzern endlich zu seiner Schuld und Verantwortung steht. Und er will Gewissheit haben, dass nicht eine Laune der Natur für seine Missbildungen und die Tausender anderer verantwortlich ist, sondern eine Firma, die fahrlässig gehandelt hat. Andre Sommer gründet eine Selbsthilfegruppe, recherchiert jahrelang – und will wegen der vielen Rückschläge schon fast aufgeben. Doch plötzlich tauchen Dokumente auf, ein interner Schriftverkehr der Firma Schering: 20 Ordner voller Briefe, Anweisungen, Tierstudien. Jahrelang schlummerten sie in einem Archiv. Sie belegen, dass Schering damals gewusst hat, welche Gefahr von dem Hormonpräparat Duogynon, das seine Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hatte, ausging – und dass der Konzern Schering alles getan hat, um das zu vertuschen.“ (10)
  • „Schon 2001 legten Studien nahe, dass das Schmerzmittel Vioxx das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöht. Erst 2010 nahm US-Hersteller Merck & Co. das Medikament vom Markt. Die US-Justiz kam beim Strafprozess zu der Überzeugung, Merck habe das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen unterschlagen, um die Verkaufszahlen nicht zu gefährden. Bis zu 139.000 Patienten haben laut der US-Zulassungsbehörde FDA nach der Behandlung mit Vioxx einen Infarkt erlitten, bis zu 55.000 Menschen starben daran.“ (11)
  • „Im Skandal um Brustimplantate aus Billig-Silikon ist die vierjährige Haftstrafe für den Gründer des Herstellers PIP jetzt endgültig.“ (…) „Die inzwischen insolvente Firma Poly Implant Prothèse (PIP) hatte jahrelang Brustimplantate aus billigem und nicht für Medizinprodukte zugelassenem Industriesilikon hergestellt. Das Berufungsgericht in Aix-en Provence sah es im Mai 2016 als erwiesen an, dass Mas“ (der Unternehmensgründer) „seine Kunden und auch das Prüfunternehmen TÜV Rheinland bewusst getäuscht hatte.“ (12)

Besonders tragisch und zugleich empörend ist, dass die Betroffenen neben der Last, die sie durch ihr Leiden ohnehin schon zu stemmen haben, auch noch jahrelang prozessieren müssen, bevor sie – wenn überhaupt – zu ihrem Recht auf Entschädigung kommen. Ihre Gegner, die ungleich finanzkräftigeren Pharmakonzerne, kämpfen mit allen Mitteln gegen die Anerkennung ihrer Schuld. Ein extremer Fall ist hier das erstgenannte Beispiel. (13)

Dass der Skandal um die Brustimplantate nur die Spitze des Eisbergs war, zeigten im Übrigen jüngst die Implant Files. (14) Hier wird aber auch noch etwas anderes deutlich: Seit Jahrzehnten haben es die Regierungen versäumt, adäquate Gesetze und Richtlinien für die Prüfung von Medizinprodukten zu schaffen. Die geltenden Regelungen sind geradezu absurd: „Anders als Medikamente müssen Implantate und Prothesen nicht darauf getestet werden, ob sie Patienten wirklich helfen, sondern ob sie technisch funktionieren. Nicht staatliche Stellen entscheiden, was implantiert werden darf. Stattdessen zertifizieren private Unternehmen wie TÜV oder die Dekra die Geräte. Dabei prüfen sie meist nur die technischen Unterlagen, aber nicht die Geräte selbst. Diese Firmen verdienen aber nur dann Geld, wenn sie einen Prüfauftrag von den Herstellern bekommen.“ (15) Nach Bekanntwerden des Skandals um die Brustimplantate sollten diese Regelungen EU-weit verschärft werden. Die Lobbyisten der Pharmaindustrie konnten dies jedoch erfolgreich verhindern. (16)

Ein weiteres Beispiel für erfolgreichen Lobbyismus ist der Abgasskandal: „Das Kanzleramt beeinflusste die EU-Kommission auf Wunsch der Autolobby gezielt, um Abgasgrenzwerte an den Ausstoß der Autos anzupassen. Eckart von Klaeden, der frühere Staatsminister im Kanzleramt, versuchte nach seinem nahtlosen Wechsel zu Daimler, die Bundesregierung per E-Mail und Telefon von schärferen Messtechniken abzubringen. Und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) schickte den Entwurf einer Regierungserklärung vorab zu Volkswagen.“ (17)

Mit dem Thema Lobbyismus sind wir an einer der Nahtstellen der drei gesellschaftlichen Teilsysteme Wirtschaft, Politik und Medien angelangt. Sind diese in sich bereits so strukturiert, dass sie dem Gemeinwohl im Wesentlichen zuwiderlaufen, so zeigen sich gerade an ihren Schnittpunkten derart ungünstige Verquickungen, dass sich von hier aus, gleich einem Krebsgeschwür, das zerstörerische Potenzial des Kapitalismus voll entfalten kann. Oder anders ausgedrückt: Das Wirtschaftssystem korrumpiert das Gesellschaftssystem.

Apropos Korruption: Ein dem Lobbyismus verwandtes Thema ist das der Parteispenden und des Sponsorings durch Unternehmen und Wirtschaftsverbände: „(…) Über 17 Millionen Euro spendeten Automobilhersteller, Zulieferer, Dienstleister und Verbände seit 2009 an CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne. Fast vier Fünftel des Geldes gingen dabei an Schwarz-Gelb.“ (18)

Sowohl Lobbyismus als auch die Parteienfinanzierung durch juristische Personen stellen die Unabhängigkeit politischer Entscheidungen in Frage – und zwar so sehr, dass, wie es Lobbycontrol e.V. ausdrückt, „das pluralistische Ideal einer ausgewogenen und gleichberechtigten Interessenvertretung, bei der sich praktisch von selbst das beste Argument durchsetzt, eine Illusion ist.“ (19)

Und als wäre das alleine nicht schlimm genug: Allen beiden Phänomenen ist gemeinsam, dass sie höchst intransparent ablaufen, so dass der Souverän – also die wahlberechtigte Bevölkerung, von der laut Grundgesetz alle Staatsgewalt ausgehen soll – doppelt getäuscht wird.

Das Verhältnis von Wirtschaft und Politik ist jedoch nicht nur durch zunehmenden Lobbyismus gekennzeichnet. Große Unternehmen und erst recht weltweit agierende Konzerne können auch anders: Unverhohlen drohen sie mit der Streichung von Arbeitsplätzen, Standortwechsel oder mit Vertragsstrafen, wenn die Richtung, die eine Regierung einzuschlagen gedenkt, nicht in ihren „Business-Plan“ passt.

Die Politik leistete dieser Entwicklung auch noch Vorschub, indem sie internationalen Abkommen zustimmte, die private Schiedsgerichte ermöglichen. Bis 2012 haben die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland 139 solcher Abkommen mit Schiedsgerichtssystem abgeschlossen. Damit haben sie sich und das Land abhängig und erpressbar gemacht. Denn die Schiedsgerichte etablieren eine Paralleljustiz und untergraben die Demokratie, indem sie ausländische Investoren ermächtigen, einen Staat, in dem sie investiert haben, zu verklagen, sofern sie ihre nach internationalem öffentlichem Recht garantierten Ansprüche verletzt sehen. „Alle politischen Beschlüsse, aus denen eine direkte oder indirekte Enteignung von Investoren geschlussfolgert werden kann, stellen somit potentiell eine ausreichende Grundlage für Schadensersatz Klagen dar, bei denen auch zukünftige entgangene Gewinne geltend gemacht werden können. Neben direkter staatlicher Enteignung können auch Regulierungen betroffen sein, wie Umwelt-, Arbeits- und Lebensmittelschutzstandards sowie alle Maßnahmen, die als Verstoß gegen die Handelsprinzipien des Marktzugangs oder der Nicht Diskriminierung von ausländischen Investoren interpretiert werden können.“ (20)

Angesichts der Tatsache, dass Demokratie – mit Ausnahme des halbherzigen Versuchs auf EU-Ebene – nationalstaatlich organisiert ist und sich Konzerne durch einen Standortwechsel jederzeit problemlos den lästig werdenden Staaten entziehen können, muss man also davon sprechen, dass die Globalisierung die Demokratie überholt hat. Hinzu kommt, dass es zum Grundprinzip des Kapitalismus gehört, dass unternehmerische Interessen auf Kosten der Allgemeinheit durchgesetzt -und „Kollateralschäden“ billigend in Kauf genommen werden. Folgekosten unternehmerischen Handelns werden also externalisiert, dies vermag die sogenannte „soziale“ Marktwirtschaft nicht zu verhindern: So machen z.B. die Umweltkosten fast 50 % der gesamten externen Kosten des Verkehrs aus. (21)

Inwiefern ist denn aber, abgesehen von diesem dramatischen Befund, das repräsentativ-demokratische System, selbst Verursacher der Krise, in der wir uns befinden? Dazu muss zunächst einmal konstatiert werden, dass die Kommunikation zwischen Wähler*innen und Gewählten eine Einbahnstraße ist und daher der für eine angemessene Repräsentation eigentlich notwendige Dialog von vornherein nicht zustande kommt. Denn bei Wahlen kann nicht über Einzelthemen entschieden werden und am Ende steht nur eine grobe Richtungsentscheidung.

Verschärft wird dieses Grundproblem dadurch, dass strategische Kommunikation in Zeiten des Wahlkampfs Hochkonjunktur hat: Es wird viel versprochen und der politische Gegner wird noch mehr beschimpft als ohnehin schon üblich. Obwohl vermutet werden darf, dass die meisten Wähler*innen diese Rituale durchschauen, sehen sie sich am Ende doch einem eher diffusen Angebot an Floskeln gegenüber, von denen die Wahlprogramme durchsetzt sind.

Die Gewählten wiederum stehen nach dem Urnengang vor dem Problem, dass sie über den Wählerauftrag nur mutmaßen können. So sind sie die gesamte Legislaturperiode hindurch gezwungen, in den trüben Wassern der veröffentlichten Meinung zu fischen. Getrieben von vermeintlichen Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung handeln sie in der Folge entweder in Form einer panischen Überreaktion oder aber sie verfallen in eine Art Trial-And-Error-Modus, der schlimmstenfalls in Lethargie mündet.

Kennzeichnend für diesen Zustand ist eine Politik der kleinen Schritte, in der nach der Devise „Auf Sicht fahren“ ein Testballon nach dem anderen gestartet wird. Probleme werden oft lange ignoriert, bestenfalls wird repariert. Neue Ideen haben viel zu geringe Chancen; grundsätzliche und durchdachte Änderungen, die das Ganze in den Blick nehmen, finden erst recht nicht statt.

Hinzu kommt, dass Ministerien, die in den Händen unterschiedlicher Parteien sind, oft nicht zusammen arbeiten, sondern gegeneinander. Denn es geht den Koalitionspartnern in erster Linie darum, sich im Hinblick auf die nächste Wahl zu profilieren. Das beste Beispiel hierfür ist die sich dahinschleppende und vor Inkonsequenz nur so strotzende Energiewende. Auch hier gerät also aus dem Blick, was nie aus dem Blick geraten dürfte: das Ganze – oder anders ausgedrückt: das Gemeinwohl.

Weil irgendwann jede Regierung abgelöst wird, sind langfristige Planungen ohnehin nicht Teil des Programms. Obwohl es natürlich zu den wichtigsten Grundprinzipien von Demokratie gehört, dass Entscheidungen revidierbar sind, dass also die Gesetze der Vorgängerregierung wieder kassiert werden können, verbirgt sich hier ein weiterer Fehler des ausschließlich repräsentativen Systems. Letztlich wird Verantwortung auf diese Weise nämlich nicht wahrgenommen, sondern nur weitergeben.

Damit wiederholt sich, was eine Ebene tiefer auch schon stattgefunden hat: Verantwortung wurde delegiert, von den Wähler*innen auf die Abgeordneten. Dies ist zum einen ein Vorgang, der das immense Potential an Lern- und damit Fortschrittsfähigkeit einer Gesellschaft verschenkt. Zum anderen ist es insbesondere im Hinblick auf individuelle oder generationsübergreifende Schicksalsfragen geradezu absurd, die Entscheidungen darüber gewählten Vertreter*innen zu überlassen.

Diejenigen, die von politischen Beschlüssen betroffenen sind, haben keine Möglichkeit, direkten Einfluss darauf zu nehmen. Was gerne als Demokratie bezeichnet wird, ist daher nicht mehr also als ein schöner Schein – ja es ist sogar, wie oben dargelegt, die organisierte Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Dazu trägt auch ein weiteres Charakteristikum des Parlamentarismus bei: die Fraktionsdisziplin. Wie wichtig diese den Parteien ist, wird unter anderem daran deutlich, dass selbst im Ergebnispapier der Sondierungsgespräche zur Großen Koalition von CDU, CSU und SPD vom 12. Januar 2018 schriftlich festgehalten wurde, „dass die Koalitionsfraktionen „[i]m Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien […] einheitlich“ abstimmen, „wechselnde Mehrheiten“ seien damit „ausgeschlossen“. (22) Dass dies dem im Grundgesetz festgelegten Prinzip des freien Mandats widerspricht, scheint bis heute niemanden ernsthaft zu kümmern.

Erweisen sich nun wenigstens die Medien als dem Gemeinwohl dienlich oder stärken sie im Gegenteil die in dieser Hinsicht dysfunktionalen Eigenschaften der beiden Teilsysteme Wirtschaft und Politik? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst zwischen den Massenmedien und den sogenannten Neuen Medien unterschieden werden.

Bis zur Entstehung des Internet waren die Massenmedien diejenige gesellschaftliche Instanz, in der Öffentlichkeit maßgeblich hergestellt wurde. Als – weitgehend nicht institutionalisierte – vierte Gewalt fiel ihnen die Rolle zu, staatliches und wirtschaftliches Handeln zu hinterfragen. So unverzichtbar diese Rolle der Massenmedien für das Funktionieren von Demokratie einerseits war (und ist), so kritisch wurden sie andererseits von der Medien- und Politikwissenschaft beurteilt, wenn es darum ging, normativen Kriterien von Öffentlichkeit zu genügen.

Bezugnehmend auf das emphatische Öffentlichkeitsmodell von Bernhard Peters (23) ließ sich damals zusammenfassend folgendes sagen:

  1. Die Forderung nach Chancengleichheit im Zugang zu den Massenmedien war nicht erfüllt, da hier einfache Bürger, soziale Minderheiten und Randgruppen tendenziell eher benachteiligt wurden.
  2. In Bezug auf das Postulat der Offenheit für Themen und Beiträge ließ sich feststellen, dass das Publikum kaum Einfluss auf die Agenda der Massenmedien hatte.
  3. Und schließlich ergab sich, dass das Diskursniveau massenmedialer Kommunikation erheblich zu wünschen übrig ließ. (24)

Diesem niederschmetternden Fazit kann einschränkend allerdings hinzugefügt werden, dass in Deutschland – nicht zuletzt dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes – die öffentlich rechtlichen Medien im Vergleich zu den privaten bezüglich der drei genannten Kriterien etwas weniger problematisch einzuschätzen waren und sind.

Mit dem Aufkommen des Internet, genauer mit der Etablierung der Sozialen Medien, änderte sich alles – allerdings nicht durchgängig zum Besseren. Heute kann jeder auf Knopfdruck eine prinzipiell unbegrenzte Öffentlichkeit erreichen. Aus demokratietheoretischer Sicht ist das zunächst einmal positiv, denn gesellschaftliche Kommunikation kommt somit dem Ideal eines Diskurses im Habermas‘schen Sinne ein Stück näher. Und von Zeit zu Zeit gelingt es sogar Einzelpersonen, Einfluss auf die Agenda der Massenmedien zu nehmen. Jüngste Beispiele hierfür sind Rezo oder Greta Thunberg.

Die Macht der klassischen Gatekeeper und auch die der Massenmedien insgesamt hat also abgenommen. Wer bestimmt heute aber, was in den Fokus der Öffentlichkeit gerät? Weltkonzerne, die wie Google und Facebook Suchmaschinen oder Soziale Medien betreiben, sind in der Lage, mit ihren Algorithmen die Informations- und Gesprächsflüsse auf denkbar intransparente Art zu beeinflussen. Welche Gefahr für die Demokratie darin lauert, wird an der Metapher „Weltbildmaschinen“ deutlich, die der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in diesem Zusammenhang verwendet. (25)

Intransparenz ist auch das Stichwort für ein weiteres ähnlich problematisches Internet-Phänomen: Social Bots. So besteht beispielsweise „in der Debatte um den EU-Austritt in Großbritannien bei einem Drittel aller Twitter-Meldungen der Verdacht, dass sie von Automaten geschrieben wurden, wie Wissenschaftler aus Oxford herausfanden.“ (26) Wenn dann auch noch Falschnachrichten verbreitet werden, liegt es nahe, dass Wahlen und Abstimmungen auf diese Weise manipuliert werden können – insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass politische Fake News bis zu 70 Mal häufiger geteilt werden als wahre Behauptungen. (27)

Die Problematik von Fake News hängt eng zusammen mit einer Grundeigenschaft der Netzkommunikation, die dem Prozess der Meinungsbildung zuwiderläuft: Informationen lassen sich im Internet nahezu in Echtzeit verbreiten. Für eine fundierte Meinungsbildung ist es aber unerlässlich, Fakten zu prüfen und Argumente abzuwägen. Beides braucht Zeit, welche sich jedoch die wenigsten Nutzer*innen nehmen. Dies hat zur Folge, dass die Netzkommunikation durch Vor-Urteile und Stimmungen geprägt ist.

Die Empfänglichkeit insbesondere der Sozialen Medien für emotionsgesteuerte Debatten bewirkt wiederum – so eine weitere plausible Annahme – dass der potentiell auf jede Äußerung drohende Shitstorm wie ein Damoklesschwert über dem Netz hängt und den Diskurs im Keim erstickt: „Man fürchtet unkalkulierbare Kommunikationseffekte und antizipiert schon im Akt der Äußerung die maßlose Reaktion und die asymmetrische Attacke. Was wird geschehen, wenn man sagt, was man denkt? Wer wird sich erregen, wer einen angreifen?“ (28) Gleich einem Zombie steht damit die Hypothese der Schweigespirale erneut im Raum.

Die Vermutung, dass auch diese Angst vor dem Shitstorm ein Grund dafür ist, sich Echokammern aufzubauen, in denen man sich vornehmlich aufhält und äußert, erscheint schlüssig. Sind die Echokammern des Internet aber nichts anderes als Gruppen in der analogen Welt? Und ist damit die Befürchtung nicht berechtigt, dass Kommunikationsprozesse, die in dieser analogen Welt problematisch sind, aber meist lokal begrenzt bleiben, durch das Internet potenziert werden und damit die Menschheit vor eine ihrer größten Herausforderungen stellt? Eine Studie von 2018 legt jedenfalls den Vergleich mit dem 1954 von Muzafer Sherif entdeckten Ingroup Outgroup-Phänomen nahe: „Ein Team um den US-Soziologen Christopher Ball von der Duke University hat in einem Experiment Demokraten und Republikaner auf Twitter mit gegenläufigen Meinungen konfrontiert. Das führte bei den Demokraten zu einer leichten Intensivierung ihrer liberalen Einstellung, die politische Agenda der Republikaner erfuhr eine massive Verstärkung.“ (29) Angesichts der Tatsache, dass Gruppen gemäß der Erkenntnisse Sherifs, erst durch Aufgaben, die sie zusammen lösen müssen, damit beginnen, Stereotype abzubauen, möchte man hier ausrufen, dass die ökologischen Krise doch nur darauf wartet, endlich gemeinsam angepackt zu werden!

Im gleichen Atemzug mit den Befürchtungen über die Entstehung von Echokammern muss allerdings auch betont werden, dass die Forschung bisher kaum Hinweise auf die Existenz dieses Phänomens gefunden hat. Eine Erklärung für diese Beobachtung könnte sein, dass unsere Beziehungen in der analogen Welt eben doch so vielfältig und wichtig sind, dass sie die erwarteten Effekte – noch zumindest – abfedern.

Im Zusammenhang mit Echokammern taucht oft auch die – demokratietheoretisch höchst relevante – Thematik einer Fragmentierung von Öffentlichkeit auf. Wie Katharina Kleinen von Königlöw 2016 in einem Aufsatz gezeigt hat, verbergen sich hinter diesem Schlagwort sehr vielfältige und recht komplexe Fragestellungen. (30) Zwar besteht nach wie vor Forschungsbedarf, jedoch kann die Fragmentierungs-These in vielerlei Hinsicht bisher nicht bestätigt werden. „Problematischer erscheint die Zunahme der indirekten Nutzung von Nachrichtenmedien über soziale Netzwerke und zwar insbesondere, wenn diese nicht ergänzt ist durch die regelmäßige Nutzung traditioneller Nachrichtenmedien“, wie Kleinen von Königslöw in einem weiteren Beitrag feststellt. (31)

So viel jedenfalls ist klar: Mit der Entstehung des Internet und der Sozialen Medien hat sich der Blick der (ehemaligen) Rezipient*innen auf die Massenmedien verändert, weil ihnen nun zum einen eine unendliche Fülle an Publikationen zur Verfügung steht und sie zum anderen selbst zu Produzent*innen von „Content“ geworden sind. Einerseits ist die Illusion, dass sich in den Massenmedien eine Öffentliche Meinung herausbildet, dadurch entzaubert worden. Andererseits besteht nun die Gefahr, dass das, was sich in den Sozialen Medien an Stimmungen verbreitet, mit der Öffentlichen Meinung gleichgesetzt wird.

Mit Blick auf die Ausgangsfrage zur Funktionalität des Bereichs Medien in Bezug auf das Gemeinwohl lässt sich zusammenfassen, dass das Internet mit seinen Sozialen Medien trotz aller sich abzeichnender Gefahren eine Horizonterweiterung darstellt, die man angesichts der globalen Krisen nicht missen möchte und deren Potential noch längst nicht ausgeschöpft ist. Äußerst bedauerlich ist, dass die Zivilgesellschaft ähnlich wie in anderen Infrastrukturbereichen, die eigentlich Allmende sein müssten, das Feld profitorientierten Weltkonzernen wie Google oder Facebook überlassen hat. „Reclaim The Net“ muss daher die Devise lauten! Warum sollten denn nicht Suchmaschinen von öffentlich-rechtlichen Trägern oder Soziale Medien von (gemeinnützigen) Genossenschaften betrieben werden? Und noch weiter gedacht: Wenn der politische Prozess und die Strukturen des Mediensystems umgestaltet und aufeinander abgestimmt werden, dann besteht die Chance, dass das gesellschaftliche Kommunikationsdefizit beseitigt und ein Diskurs endlich möglich wird. Man stelle sich einmal eine Gesellschaft vor, in der Bürger*innen nach einer erfolgreichen Unterschriftensammlung zu einem Problem in einem ausgelosten Zirkel an einem Runden Tisch sitzen und über dieses Thema so lange diskutieren, bis sie einen Vorschlag haben, über den dann direktdemokratisch abgestimmt wird. Welch eine Debattenkultur sich entwickeln würde, welche Lernprozesse plötzlich möglich wären, gerade auch in den Sozialen Medien – und erst recht, wenn der Prozess vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk entsprechend begleitet würde! Aber damit bin ich eigentlich schon beim zweiten Teil dieses Aufsatzes, bei dem es um die Vorstellung eines Gesellschaftskonzeptes geht, das all dies möglich macht.

Von der Schein-Demokratie zur Gemeinwohl-Ökonomie

Wie kann man Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sinnvoll integrieren und dabei direktdemokratische Elemente institutionalisieren? Diese Frage beschäftigte mich im Nachgang zu meiner Diplomarbeit. Sinnvoll integrieren hieß für mich, dass den Unternehmen die Möglichkeit genommen werden sollte, Umwelt- und Sozialkosten zu externalisieren, also auf Kosten der Allgemeinheit zu wirtschaften. Es muss im Oktober 2007 gewesen sein, als mir während einer Zugfahrt klar wurde, dass beide Systeme ja bereits an einer Stelle verschränkt sind – nämlich im Gemeinnützigkeitsrecht: Körperschaften werden bereits jetzt steuerlich entlastet, wenn sie im Sinne der Gesellschaft handeln. Ich sagte mir: Eigentlich müsste es doch so sein, dass ALLE Unternehmen der Gesellschaft dienen und dies auch nachweisen können. Je mehr sie dies täten, desto mehr müssten sie entlastet werden. Und die Kriterien, nach denen die Unternehmen zu bewerten wären, müssten in einem deliberativen Prozess bestimmt und direktdemokratisch legitimiert werden. Heureka! Die Gemeinwohl-Ökonomie war geboren! Oder noch nicht ganz: Der Name existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Den trug dann Christian Felber bei, als ich ihm auf jener Zugfahrt von meiner Idee erzählte.

Was zeichnet nun die Gemeinwohl-Ökonomie im Einzelnen aus, welche Perspektiven zur Weiterentwicklung dieses Konzeptes bieten sich? Wie eben dargelegt, dreht die Gemeinwohl-Ökonomie das kapitalistische Grundprinzip der Externalisierung von gesellschaftlichen Kosten um: Ein Unternehmen, das der Gesellschaft – wahrscheinlich unter Einsatz höherer Investitionen – Reparaturkosten erspart, soll dafür entsprechend belohnt werden. Oder anders ausgedrückt: Es geht darum, die Wettbewerbsnachteile auszugleichen, die Unternehmen haben, wenn sie zum Beispiel in umweltfreundlichere – aber (zunächst) teurere – Technologien investieren. Was aber passiert nun, wenn alle Unternehmen danach streben, in umweltfreundlichere Technologien zu investieren? Erstens: Umweltfreundliche Technologien werden billiger. Zweitens: Es entsteht ein Wettbewerb um die umweltfreundlichste Technologie. Produkte werden fortan so konzipiert,

  • dass sie möglichst lange halten,
  • dass sie leicht repariert werden können,
  • dass sie recyclingfähig sind,
  • dass sie möglichst wenig Schadstoffe enthalten und
  • dass bei ihrer Herstellung möglichst wenig ökologischer Schaden angerichtet wird. (32)

Auch soziale Belange, wie z.B. faire Bezahlung von Rohstofflieferanten und menschenwürdige Arbeitsbedingungen, spielen auf einmal eine entscheidende Rolle beim unternehmerischen Handeln.

Einer der größten Vorteile der Gemeinwohl-Ökonomie ist ihre Zuverlässigkeit: Bei konsequenter Umsetzung wird ihr „Output“ aller Voraussicht nach eine ökologisch und sozial so erheblich fortgeschrittene Gesellschaft sein, dass von einer Reform zu reden eine Untertreibung wäre. Diese Zuverlässigkeit beruht darauf, dass der Gemeinwohl-Ökonomie – im Gegensatz zu anderen alternativen Gesellschaftssystemen – ein Mechanismus zugrunde liegt, nämlich ein marktwirtschaftliches Anreizsystem. Auf den ersten Blick setzt sie damit auf den Menschen als Nutzenmaximierer, als Homo Oeconomicus. Bei genauerer Betrachtung lässt sie aber die Beweggründe menschlichen Handelns offen und schafft lediglich eine Rückfallebene: Sollte dem Agieren ein egoistisches Profitstreben zugrunde liegen, dann führt dies dennoch zu einer Mehrung des Gemeinwohls. Weil die Gemeinwohl-Ökonomie also durchaus die Fehlbarkeit des Menschen in Betracht zieht, ihm aber zugleich zutraut, nach dem Guten zu streben und sich im Rahmen von deliberativen und direktdemokratischen Verfahren auf ethische Grundsätze zu verständigen, könnte man davon sprechen, dass ihr ein pädagogisches Element innewohnt.

Der Mensch ist, davon bin ich überzeugt, von Natur aus weder egoistisch noch altruistisch – das Ausmaß seiner moralischen Integrität ist vielmehr das Ergebnis gesellschaftlicher Formung. Entscheidend ist also, welche Eigenschaften ein Gesellschaftssystem KULTIVIERT. Dass unser kapitalistisch-marktwirtschaftliches System, dessen einziger Zweck die Maximierung des Profits ist, geradezu eine toxische Wirkung entfaltet, versteht sich fast von selbst. Viel spannender ist die Frage, ob das Maß an Vertrauen, welches die Gemeinwohl-Ökonomie dem Menschen entgegenbringt, noch ausgeweitet werden kann. Auf lange Sicht scheint mir dies sinnvoll, zumal die Gemeinwohl-Ökonomie in ihrer ursprünglichen Form zwei Grundfragen unberührt lässt: die nach Eigentum und die nach wirtschaftlichem Wachstum. (33)

Die neben der Gemeinwohl-Ökonomie am meisten diskutierten alternativen Gesellschaftssysteme basieren entweder auf dem Commons-Gedanken oder sind Teil der Degrowth-Bewegung. Sie erfordern einen weitergehenden Paradigmenwechsel, der ohne einen Übergang kaum vorstellbar ist. Die Gemeinwohl-Ökonomie könnte genau jene Zwischenstufe darstellen, derer es bedarf, damit eine Commons-basierte Postwachstumsökonomie nicht Utopie bleibt.

Wir brauchen dringend eine Kultur der Genügsamkeit und des Teilens. Und die Gemeinwohl-Ökonomie kann den Boden für einen entsprechenden Bewusstseinswandel bereiten – denn sie fordert von sich aus, dass sich alle Mitglieder der Gesellschaft permanent über ethische Ziele verständigen.

Darüber hinaus gibt es ganz konkrete Möglichkeiten, die Gemeinwohl-Ökonomie weiterzuentwickeln und damit auch Teile der Commons-Philosophie und des Postwachstumskonzepts zu verwirklichen:

  • Unternehmen, die Steuererleichterungen erhalten haben, können dieses Geld, sofern es nicht zur Erhaltung des Betriebs notwendig ist, (ggf. sogar anonym) für gute Zwecke spenden und es auch so dem Gemeinwohl zukommen lassen.
  • Der Wirtschaftskonvent kann vorschlagen, bestimmte Wirtschaftszweige zur Allmende zu machen. Damit würde zwar weder der Markt noch der Staat abgeschafft, aber man würde sich dem Commens-Prinzip ein Stück nähern.
  • Sofern ein entsprechender Vorschlag des Wirtschaftskonventes angenommen würde, könnten Genossenschaften unterstützt werden, indem man sie gemeinnützigen Organisationen steuerlich generell gleichsetzt. So würde Kooperation gefördert, ohne den Wettbewerb um ethische Ideen auszuschließen. (34)

Der Wirtschaftskonvent ist (neben Gemeinwohl-Matrix und Gemeinwohl-Bilanz) eines der drei konstitutiven Elemente der Gemeinwohl-Ökonomie. Derzeit wird dies jedoch leider alles andere als adäquat kommuniziert – mit fatalen Folgen für das Verständnis des holistischen Ansatzes der Gemeinwohl-Ökonomie.

Der Wirtschaftskonvent ist meiner Vorstellung nach ein direkt gewähltes oder teilweise ausgelostes Gremium, das ähnlich der Bundesversammlung aus möglichst allen relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen zusammengesetzt sein sollte. Jeweils zu den Parlamentswahlen könnte er um neue Gruppierungen ergänzt werden, sofern entsprechende aus der Bevölkerung kommende Vorschläge eine Mehrheit erhielten.

Die Aufgaben dieses ständigen Gremiums sind folgende:

  • Er soll die Indikatoren der Gemeinwohl-Matrix vorschlagen – diejenigen Kriterien also, nach denen Unternehmen bewertet werden. (35)
  • Zudem soll er konkrete Vorschläge für die finanziellen Entlastungen ausarbeiten, welche den Unternehmen mit entsprechend guter Gemeinwohl-Bilanz zukommen.
  • Schließlich soll er das Recht haben, weitere Vorschläge für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu machen – Beispiele wurden oben genannt. (36)

Während der Wirtschaftskonvent intern KonsenT-orientiert handelt, ist in der Gesamtbevölkerung über die Vorschläge des Wirtschaftskonventes direktdemokratisch abzustimmen. Damit ist die Gemeinwohl-Ökonomie also keineswegs ein reines Wirtschaftsmodell (wie es unter anderem der derzeit verwendete Slogan glauben machen will), sondern vielmehr ein Gesellschaftssystem, welches eine Mischform aus Verhandlungs- und Konkurrenzdemokratie beinhaltet. (37)

Es geht ums Ganze

Dramatischer als derzeit könnte die Lage des Planeten Erde und der Menschheit kaum sein. Um die Veränderungen, die im Hinblick auf die Umwelt- und Klimakrise erforderlich sind, in die Wege zu leiten, haben wir wohl nur noch wenige Monate Zeit; um sie vollständig in die Tat umzusetzen, bleiben uns vielleicht noch ein paar Jahre. Diese Erkenntnis ist, seit ich diesen Aufsatz im Oktober 2018 begonnen habe, stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. (38) Dazu beigetragen haben zum einen klimatische Extremereignisse, die auch für die Bevölkerungen in den Industriestaaten spürbar geworden sind. Zum anderen macht die Klimabewegung – der Notlage angemessen – mit neuen Formen des friedlichen Protestes auf die Katastrophe aufmerksam. Es geht jetzt ums Überleben, es geht ums Ganze!

An Konzepten aber, die das Ganze auch wirklich in den Blick nehmen, mangelt es in der öffentlichen Diskussion. Vor allem seitens der Politik werden wie eh und je hauptsächlich Teillösungen, so zum Beispiel eine Abwrackprämie für Ölheizungen, ins Gespräch gebracht. Selbst der im Moment am weitesten gehende Vorschlag, eine Bepreisung von Kohlendioxid, bleibt um Längen hinter dem Erforderlichen zurück. Denn ein Produkt kann zwar CO2-neutral sein, in anderer Hinsicht aber der Umwelt extrem schaden. Um ein Gesamtkonzept, das auch Technologiebewertungen enthält, dürfte sich die Politik also nicht weiter drücken.

Ein solches Gesamtkonzept müsste aber vor allem die systemischen Ursachen der Krise berücksichtigen sowie in der Konsequenz die derzeit fehlgekoppelten Teilsysteme Politik, Wirtschaft und Medien integrieren und unter das Primat des Gemeinwohls stellen. Damit einhergehend müssen wir endlich aus der Schein-Demokratie eine echte Demokratie machen – eine, die ihren Namen auch verdient, in der also wir Bürger*innen aktiv in den politischen Prozess eingebunden sind und das letzte Wort haben.

Anmerkungen

1) vgl. https://p.dw.com/p/2RMMf

2) vgl. http://www.greenpeace.org/austria/de/News/Aktuelle-Meldungen/Konsum-News/2017/10-Fakten-zu-unserem-Plastik-Planeten-Erde/

3) vgl. https://www.swr3.de/aktuell/nachrichten/40-Kilogramm-Plastik-im-Bauch-Wal-auf-den-Philippinen-verendet/-/id=47428/did=5041812/1dqdqtf/index.html

4) vgl. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/co2-gehalt-der-atmosphaere-erreicht-historischen-hoechststand-a-1267384.html

5) vgl. https://www.tdh.de/was-wir-tun/arbeitsfelder/kinderarbeit/

6) Bis auf wenige Aktualisierungen wurde der erste Abschnitt dieses Aufsatzes im Herbst 2018 geschrieben.

7) vgl. https://www.mdr.de/wissen/umwelt/klimawandel-koennte-dominoeffekte-beschleunigen-100.html

8) Natürlich ist das Gemeinwohl derzeit eine hypothetische Größe. Aber genau darin liegt das Problem! Mehr dazu im zweiten Teil bzw. im dritten Abschnitt dieses Textes.

9) vgl. https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/vw-wusste-in-abgas-affaere-schon-frueh-bescheid-a-1054926.html

10) vgl. https://www.3sat.de/page/?source=/ard/194240/index.html

11) vgl. https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/medizin/pharmaindustrie/geschichte-der-arzneien-arzneimittel-skandale-100~_oid-galgeschichte-der-arzneien-arzneimittel-skandale-1001_position-1.html

12) vgl. https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/pip-haftstrafe-im-brustimplantate-skandal-endgueltig/23063758.html?ticket=ST-2868460-KfNf4sURAh5tfkuRBRXG-ap6

13) vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/pharma-industrie-der-fall-duogynon-ein-wenig-beachteter.976.de.html?dram:article_id=358848

14) vgl. https://www.tagesschau.de/inland/implantfiles/implantfiles-dossier-101.html

15) vgl. https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/politik/implant-files-die-lobbyisten-e547677/

16) vgl. https://www.tagesschau.de/inland/implantfiles/implantfiles-141.html

17) vgl. https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-08/abgasskandal-autoindustrie-politik-lobbyismus

18) vgl. https://www.lobbycontrol.de/2017/09/neue-datenbank-so-viel-spenden-konzerne-an-parteien/

19) vgl. https://www.lobbycontrol.de/lobbyismus-hoehlt-die-demokratie-aus-zehn-thesen/

20) vgl. https://lobbypedia.de/wiki/Investor-State-Dispute-Settlement/

21) vgl. https://www.zukunft-mobilitaet.net/168934/analyse/externe-kosten-des-verkehrs-eu-2016-europaeische-union-nach-verkehrstraegern/

22) vgl. https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf

23) vgl. Peters 1994, S. 42-76

24) vgl. Deterding 2005, S. 30ff

25) vgl. Pörksen 2018, S. 61f

26) vgl. https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/technologie-hier-spricht-ein-roboter-ld.114510

27) vgl. https://www.3sat.de/wissen/nano/in-der-echokammer-100.html

28) vgl. Pörksen 2018, S. 72

29) vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/filterblasen-echokammern-co-filtern-als-kulturtechnik.976.de.html?dram:article_id=433306

30) vgl. Kleinen von Königslöw 2016

31) vgl. https://www.defacto.expert/2017/03/24/dd-individualisierter-mediennutzung/

32) Sätze wie diese, welche man heute oft zu lesen bekommt, gehören dann der Vergangenheit an: „Biokraftstoffe werden in den nächsten Jahren eine untergeordnete Rolle im internationalen Luftverkehr spielen, da sie momentan doppelt so teuer wie der traditionelle Treibstoff sind.“ (vgl. https://www.ufz.de/index.php?de=35416)

33) Beide Themen spielten auch bei meinem ersten Gespräch mit Christian Felber bereits eine Rolle. Zurückgehend auf eine Idee, von der ich damals schon mehrfach gehört hatte, erwähnte ich die Möglichkeit einer Höchstverdienstgrenze.

34) Es wäre nämlich unlogisch, auf der einen Seite den Wettbewerb um gemeinwohlorientierte Produkte zu fördern und auf der anderen Seite kooperatives Verhalten monetär zu belohnen.

35) Genau genommen ist der Wirtschaftskonvent eigentlich ein Wirtschafts- und Technologie-Konvent, denn es werden ja im Rahmen der Matrix-Kriterien auch Vorschläge für die Bewertung von Technologien erarbeitet.

36) Im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie wäre es zum Beispiel auch, wenn die Umsatzsteuer für gemeinwohlorientierte Produkte entsprechend gesenkt wird. So wäre es z.B. denkbar, generell alle Produkte mit Blauem Engel, Biosiegel und/oder Fair-Trade-Siegel von der Umsatzsteuer zu befreien.

37) Leider gibt es zwischen der ursprünglichen Idee der Gemeinwohl-Ökonomie sowie dem, was heute als Konzept bekannt ist und umgesetzt wird, weitere Diskrepanzen – so zum Beispiel die Tatsache, dass die Bewegung selbst als Geschäftsmodell konzeptioniert ist. Es würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, hier weiter darauf einzugehen.

38) vgl. http://www.tagesschau.de/faktenfinder/kurzerklaert/erdueberlastungstag-111.html, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-planet-schlaegt-zurueck, https://www.bbc.com/news/science-environment-48964736

Literaturverzeichnis

Deterding, Thomas: Die Interaktion von Medien, Politik und Publikum – eine theoretisch-praktische Auseinandersetzung unter besonderer Berücksichtigung direktdemokratischer Diskurse, Hildesheim 2005: https://esgehtumsganze.de/wp-content/uploads/2020/01/Die-Interaktion-von-Medien-Politik-und-Publikum_mit-Nachbemerkung-des-Verfassers.pdf

Kleinen von Königlöw, Katharina: “Publikumsfragmentierung in der Online-Nachrichtenumgebung”, in: Henn, P., & D. Frieß (Hg.). Politische Online-Kommunikation. Voraussetzungen und Folgen des strukturellen Wandels der politischen Kommunikation (S. 253–278). Berlin https://doi.org/10.17174/dcr.v3.11

Peters, B., Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidthardt, F. (Hrsg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34, Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 42 – 76.

Pörksen, B.: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018

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